Logenleben in der Moderne

"Es braucht die Freimaurerei mehr denn je"

Interview: Jonas Keller, Winterthurer Jahrbuch 2020

Jörg Engweiler war Meister vom Stuhl der Winterthurer Freimaurerloge Akazia. Im Interview sprach er darüber, was das Logenleben ausmacht und wie es sich der Moderne anpasst.


Ganz einfach gesagt: Womit beschäftigen sich Freimaurer?

Wir wollen ein gesundes Mensch- und Mannsein fördern und das Bedürfnis erfüllen, sich darüber auszutauschen.

Was heisst "gesund" in diesem Zusammenhang?

Es geht darum, sein Leben verantwortungsbewusst zu führen. Und es geht darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen. Wir sind der Überzeugung, dass unser Gemeinwesen Stärkung braucht, und wir wollen das im Kleinen üben, um es im Grossen zu pflegen. Das hat natürlich auch einen egoistischen Zug – jeder arbeitet ja hier vor allem an der eigenen Person. Wir teilen aber die Überzeugung, dass wir so helfen können, die Gesellschaft als verantwortungsbewusste Individuen mitzutragen.

Braucht es die Freimaurerei heute noch?

Wenn man den Aufklärungsgedanken weiterspinnen möchte, dann braucht es solche Bildungsinitiativen wie die Freimaurerei mehr denn je.

Wo passt sie trotzdem nicht mehr ganz in die Zeit?

Durch die traditionellen Formen schleppt man sicher auch Veraltetes mit. Diese Eigentümlichkeiten können schnell lächerlich wirken. Wer sich einen Schurz umhängt, um sich ernsten Themen zuzuwenden, wird von aussen rasch beargwöhnt. Allerdings haben diese Formen durchaus ihren Zweck: Wer ein Arbeitsgewand wie den Maurerschurz anzieht, zeigt damit, dass er etwas zu tun hat. Indem wir das nachahmen, bestärken wir unsere innere Motivation. Von aussen sieht man das aber natürlich nicht und es können Missverständnisse entstehen.

In der Akazia geht es um die Beschäftigung mit dem gesunden Mannsein. Winterthur hat allerdings seit 2007 auch eine Frauenloge. Wie gut ist diese akzeptiert?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute noch jemand ein Problem damit hat. Diese Methoden den Frauen vorzuenthalten wäre sinnlos und intolerant. Ich persönlich freue mich sehr, dass Frauen die Freimaurerei ebenfalls für sich entdeckt haben und praktizieren.

Im Gegensatz zu anderen Vereinen werben die Freimaurer nicht gerade um Mitglieder. Wie kommt man überhaupt dazu beizutreten?

Wenn man eine diskrete Gesellschaft ist, die gefunden werden will, wirkt das tatsächlich etwas paradox. Heute ist das aber viel weniger schwierig als früher. Vor 50 Jahren musste es von Person zu Person vermittelt werden. Mit dem Internet können uns heute Menschen aus allen Ecken der Gesellschaft finden. Die Freimaurerei hat damit das Zirkelhafte, Elitäre etwas verloren. Darüber bin ich ganz glücklich.

Sie haben die Freimaurerei vorhin eine Bildungsinitiative genannt. Wendet sie sich nur an Gebildete?

Wer nicht willig ist, sich weiter zu bilden, ist sicher ausgeschlossen. Das ist aber fast die einzige Einschränkung. Heutzutage spielt die soziale Zugehörigkeit keine Rolle mehr. Die nötige Neugier auf Erkenntnis kann man überall finden.

Was erwartet jene, die bei der Loge Akazia anklopfen?

Zuerst findet ein Gespräch mit dem Meister vom Stuhl statt, bei dem alle Fragen gestellt werden können – von "Wie hoch ist der Mitgliederbeitrag?" bis zu "Was findet man als Mensch hier drin?". Bleibt das Interesse bestehen, wird erwartet, dass der Bewerber handschriftlich von sich berichtet und später drei Logenbrüder bei sich zu Hause empfängt für ein weiteres Gespräch, bei dem auch die Familie des Interessenten einbezogen wird. Damit soll die Vertrauensbasis für einen fruchtbaren Austausch geschaffen werden, der ein Leben lang anhalten kann.

Welche Anforderungen gelten für Mitglieder?

Am wichtigsten sind Offenheit und Neugier. Im Alltag geben die meisten lieber nicht so viel von sich preis – oder nur dort, wo wirklich Vertrauen vorhanden ist. Wenn das in einem grösseren Kreis möglich ist, dann ist das ein einmaliger Ort. Die Freimaurerloge kann das sein.

Der Glaube an etwas Höheres ist in der Akazia ebenfalls Voraussetzung.

Dieser "allmächtige Baumeister aller Welten" muss allerdings nicht personifiziert sein. Solange man an etwas Menschenverbindendes glaubt, reicht das aus. Nur wenn man das verneint, wie beim radikalen Atheismus, ist es schwierig, diese Zusammengehörigkeit aufzubauen.

Was passiert beim Aufnahmeritual?

All unsere Rituale inszenieren Übergänge. Beim Eintritt in die Gemeinschaft wird man durch das Dunkel symbolisch zum inneren Licht geführt. Mehr möchte ich aber gar nicht verraten – zentral für die Rituale ist das persönliche Erleben. So prägen sich die vermittelten Kerninhalte ein – ob bei der Aufnahme in die Loge oder bei den späteren Übergängen vom Lehrling zum Gesellen und dann zum Meister.

Wodurch unterscheiden sich diese drei Hauptgrade der Freimaurerei?

Die erste Stufe als Lehrling ist geprägt davon, dass man sich mit sich selbst beschäftigt. Man soll sich Zeit und Aufmerksamkeit nehmen zu lernen, wer man selber ist. Die Loge bietet dafür einen geschützten Rahmen und Unterstützung.

Und als Geselle?

Die Stufen sind ja eine Anlehnung daran, wie früher das Wissen der Steinmetzgilden weitergegeben wurde. Als Lehrling hat man quasi das Metier gelernt und weiss, wie wir intern funktionieren. Als Geselle soll man dann auf Wanderschaft gehen – das heisst, auch in andere Logen reinschauen und sehen, wie es dort läuft. Man soll seinen eigenen Platz suchen – sich einbringen und andere herausfordern. Als Geselle darf man sich also, bevor man als Meister bereit ist, selbst Verantwortung zu übernehmen, auch mal etwas austoben und mit den kritischen Fragen offensiv auf andere zugehen.

Wie findet ein solcher Austausch statt?

Es gibt formelle Anlässe in der Form von Kurzreferaten. Als Lehrling spricht man dabei darüber, wie man sich selbst sieht, als Geselle darüber, was einen in der Gesellschaft beschäftigt. Dabei können durchaus auch aktuelle Themen angegangen werden. Wenn zum Beispiel ein Geselle einen "Bauriss" darüber hält, wie es mit der Genderfrage in der Freimaurerei aussieht, zeigt er damit, dass das für ihn wichtig ist. Andere Brüder werden dann auch im freieren Rahmen das Gespräch mit ihm dazu suchen.

Der freie Austausch baut also auf den Referaten auf?

Diese Themen liegen natürlich auf dem Tablett. Aber die Gespräche beschränken sich nicht darauf. Im Moment zum Beispiel geht es wegen Corona viel darum, wie man sich verhalten soll, um sich selbst und andere zu schützen.

Apropos: Wie geht die Loge in ihrem Jubiläumsjahr mit der Pandemie um?

Normalerweise kommen an unsere Treffen jeweils etwa 30 Leute. Die Zahl der Teilnehmer haben wir nun aber beschränkt auf 24 und übertragen die Versammlungen für den Rest online. Dass wir das machen, war keine Frage – auch wenn es natürlich nochmals etwas mehr Vertrauen braucht. Was unser 200-jähriges Jubiläum dieses Jahr angeht, hat Corona unsere Pläne recht durcheinander gewirbelt. Unser Stiftungsfest Anfang Jahr mit über hundert Personen konnten wir aber zum Glück gerade noch durchführen. Gleiches gilt für das klassische Konzert in Zusammenarbeit mit den Winterthurer Symphonikern Anfang März. Kurz darauf wäre das nicht mehr möglich gewesen.

Sie sind im dritten Jahr als "Meister vom Stuhl". Während früher die Logenleiter auch Jahrzehnte lang walten konnten, heisst das heute, dass Sie nächstes Jahr den Vorsitz weiterreichen. Wieso diese Beschränkung?

Bei uns in der Akazia war es ein bewusster Entscheid, dass der Vorsitz alle drei Jahre wechselt. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Bei Logen, bei denen dieses Amt länger durch dieselbe Person ausgeübt wird, kann das zu einer eher einseitigen Prägung führen. Den steten Wandel, den die regelmässigen Wechsel bei uns bringen, finde ich sehr gesund.

Sie sind seit zwölf Jahren in der Akazia. Was gibt Ihnen persönlich die Freimaurerei?

Sie hat mich ermutigt, das zu machen, was ich mir vorgenommen habe. Sie schubst mich vorwärts – dabei, mich zu engagieren; dabei, andere zu unterstützen bei dem, was ihnen wichtig ist; und dabei Verantwortung zu übernehmen – hier im Verein, aber auch in der Familie. Die Gespräche, die ich mit meinen Logenbrüdern habe, sind ausserdem eine grosse Bereicherung.